inhalt katalog Bank. Berlin. Kairo.
Haytham El-Wardany
Meine Mutter praktiziert ihre eigene Art der Kapitalverwaltung an einem der äußersten Ränder des Kapitalismus. Kaum ein Monat vergeht, ohne dass sie in eine Spargemeinschaft, eine [ Gam'aia] eintritt oder selbst eine organisiert. Die Teilnehmer sind meist Nachbarn oder Bekannte, jeder zahlt monatlich einen fixen Betrag ein und bekommt dann in einem für ihn bestimmten Monat die Summe dessen, was die anderen in diesem Monat eingezahlt haben.
Dank dieser Methode füllte sich unser Zuhause sowie andere Häuser allmählich mit so manchem essentiellen wie nebensächlichen Möbelstück und einer Auswahl an elektronischen Geräten. Um eine Gam'aia zu organisieren braucht man einiges an Kommunikationstalent, man muss Leute kennen, sie besuchen - man muss aber auch entschieden eingreifen können, um die monatlichen Beitragszahlungen einzusammeln. Und man muss die Reihenfolge der glücklichen Empfänger derart festlegen, dass sie allen gerecht wird.

Wenn sie eine der Urheberinnen einer Gam'aia ist, dann ist meine Mutter wie eine Friedensvermittlerin unterwegs zwischen den Nachbarapartments, um den letzten Feinschliff in Sachen Reihenfolge auszuhandeln, oder sie empfängt Delegierte von da und dort, um sich ihre Wünsche anzuhören.
Eine Gam'aia ist eine sich-selbst-verwaltende, kollektive Spareinrichtung - ohne Zinsen, ohne Steuern, ohne Papiere. Einzige Grundlage ist gegenseitiges Vertrauen. Man findet sie oft am Arbeitsplatz oder in kleinen Wohnvierteln. Wo immer man auch gerade ist, irgend eine Spargemeinschaft wird sich in vorsichtigen Kreisen um einen herum bewegen, und wenn man das Vertrauen der Menschen gewonnen hat, darf man teilnehmen.

Eine Gam'aia zeichnet sich aus durch Null-Zuwachs an Kosten wie auch an Gewinn, denn was in Raten eingezahlt wurde, ist genau das, was man am Ende wieder herausbekommt. Allerdings in einem dicken Batzen und zu einem im voraus festgelegten Zeitpunkt, damit man hochangesetzte Ausgaben bewältigen kann. Wenn man also als erster an der Reihe ist in einer zehnköpfigen Gam'aia, in die jede oder jeder hundert ägyptische Pfund monatlich einzahlt, dann bekommt man im ersten Monat eintausend ägyptische Pfund auf einmal ausgezahlt, mit denen man Aufgeschobenes erledigen kann - um den Betrag später in monatlichen Hundert-Pfund-Raten abzubezahlen.

In Wahrheit ist eine Spargemeinschaft auch eine Strategie zum Umgang mit Zeit, vor dem Hintergrund endloser Armut, die durch Mark und Bein geht. Das von der Armut aufgezwungene, aufgeschobene Leben, kann in seinem lang ersehnten Herannahen zumindest etwas beschleunigt werden - wenn eine Gruppe von Menschen sich dazu entschliet, ihr Geld durch ihre Zeit zu teilen. Das Resultat ist also keineswegs Null, zumindest was die Zeit angeht.

Im Gegensatz zu Fluss und Bewegung, die die Gründung einer Gam'aia oder den Umgang mit kleinem Kapital charakterisieren, setzt meine Mutter eher auf Verweigerung und Ruhe, wenn es um die Verwaltung großen Kapitals geht: Allein Gold ist ihr das Vertrauen wert. Ihre Devise lautet, dass der Gegenwert von Geld sich ständig verändert, während Gold seinen Wert ewig bewahrt. Sobald sie in den Besitz einer respektablen Geldsumme kommt, geht sie denn auch nicht zur Bank, sondern sieht zu, dass sie den Kreis der Geldzirkulation sofort verlässt und ihr Geld verewigt: als Armband oder als Goldschmuck auf ihrer Brust. Es ist, als ob sie sich mit ihrer ganz persönlichen Bank an ihrem Körper fortbewegen würde. Und in der Tat hat diese Methode ihre Wirksamkeit gezeigt, kam uns zur Hilfe in Zeiten überraschender Katastrophen - der Verkauf von ein oder zwei Schmuckstücken war der einzige Ausweg. Wenn sie dazu in der Lage ist, verschenkt meine Mutter ausschließlich Gold, das ist ihre Art, äußerste Zuneigung auszudrücken. Schmuck und Kapital zur selben Zeit.

Meine Mutter lebt, wie die meisten Menschen in Ägypten, als Teil einer Gesellschaftsschicht, an die selten eine Bank herankommt. Zumindest scheint es so zu sein, denn wenn jemand in dieser Welt das Wort Konto hört, kommen ihm viele viele Geldbündel in den Sinn, Perlen und Juwelen, die in den dunkelsten Winkeln des Bankgebäudes sanft glitzern, oder ein Kontoinhaber mit einen Scheckbuch, dessen goldener Füller elegant über den Scheck gleitet, ihn mit seiner Signatur ziert. Deswegen lehnen die meisten den Umgang mit Banken ab, denn sie haben nicht genug, um es auf einem Konto zu deponieren. Sie betrachten diese Institution mit äußerster Skepsis - mitsamt ihren komplizierten Strukturen und Vorgängen.

Vielleicht war ich deswegen während meines letzten Besuchs in Kairo ein wenig erstaunt, als uns ein Brief erreichte, auf dem der Name meiner Schwester und unsere Adresse in Schreibmaschinenschrift stand, nebendran der Stempel einer Bank mit dem Kürzel NBSC. Meine Mutter überreichte mir den Inhalt des Briefs und bat mich, nachzuschauen, ob sich irgend etwas Neues getan hatte. Verwundert nahm ich die Papiere in die Hand, fand den Namen meiner Schwester am oberen Rand, und darunter eine Tabelle, wie auch ich sie von der Sparkasse bekomme. Dass es um das Konto ihrer Tochter ging, war meiner Mutter nicht neu. "Ich weiß", sagte sie, "aber haben die ihr letztes Gehalt überwiesen?" Ich hatte nicht gewusst, dass meine Schwester jetzt ihr Gehalt per Banküberweisung bekommt, und dass der Umgang mit Banken hier zu etwas Normalem geworden war. Doch meine Schwester wartete vergebens auf ihr Gehalt, weil ihre Firma, die ägyptische Niederlassung von Sainsbury's, Pleite gegangen war und sich weigerte, die Löhne der Angestellten zu zahlen. Darauf verließ meine Schwester mit ihrem Mann das Land, um anderswo nach Arbeit zu suchen.

Für mich wurde alles noch fremder: Eines Abends streunten ein Freund und ich ziellos in der Innenstadt umher. Die Entscheidung, in einer nahegelegenen Bar einige Bier zu trinken, war schnell getroffen, als mein Freund sagte, dass er erst einmal zu der gegenüberliegenden Hauswand müsse. Auf meinen Einwand, dass es doch sicher ein Klo in der Bar geben würde, erwiderte er, er brauche aber Geld. "An der Wand dort gibt es kein Geld", beharrte ich, und er lachte "du Dummkopf, ich gehe zu dem Geldautomaten bei dem Haus gegenüber, da gibt es Geld!" Ich blickte hinüber, und tatsächlich, dort blinkte und grinste ein Geldautomat einer gewissen Arabisch-Amerikanischen Entwicklungsbank.

Dieser Freund ist auf eine andere Art und Weise zu seiner Bank gekommen. Anfang der Neunziger wurde uns klar, dass wir nur zwei Wege einschlagen konnten: entweder "Beamter" werden und ein geringes Gehalt dafür bekommen, dass der Staat einen an den Arbeitsplatz fesselt und dazu zwingt, rein gar nichts zu tun. Oder aber man lässt sich auf diverse Affären und Bettgeschichten mit neu und schnell heranwachsenden Märkten ein, mitsamt ihren globalen Firmen und goldenen Regeln der zügellosen Marktwirtschaft.

Der Überfluss an Freizeit, den einem der erste Weg zur Verfügung stellt, ist aber schnell aufgebraucht: Bald muss man sich um eine zweite, zusätzliche Stelle bemühen, um die finanziellen Lücken zu füllen. Das viele Geld, das man andererseits über den zweiten Weg verdient, bedeutet gleichzeitig, dass man überhaupt keine Zeit mehr hat, um irgend etwas anderes zu tun. Beide Wege wurden probiert, und dann beklagten wir uns gegenseitig.

Unsere Entscheidungen hatten nichts mit Kritik am kapitalistischen System zu tun, es ging dabei um die Auseinandersetzung mit einer anderen Ordnung, unserem ganz eigenen Kapitalismus. Bis uns dieser Freund eines Tages offenbarte, er habe epistemologischen Selbstmord begangen. Kurz darauf hatten wir verstanden, was genau er damit meinte: Er hatte sich entschieden, mit dem Schreiben aufzuhören. Wir mussten uns über ihn wundern, aber auch über uns selbst: Die Worte, die wir niederschrieben, hielten wir zu dieser Zeit für unser eigentliches Kapital. In Wahrheit glaubten wir, dass beide Wege uns gleichgültig sein konnten, so lange wie wir unsere etwas gehobene intellektuelle Position beibehalten konnten, die uns vor den Gefahren der Geschichte beschützte. Meinem Freund gelang es, einfach so, mit einem Schlag, die Illusion zu zerstören, in deren Armen wir eine kurze Weile leben konnten.

Ich lebte eine ewig wiederkehrende Spaltung, der Kreis öffnete sich mit meiner Suche nach einem neuen Ort, um Euronoten in ägyptische Pfund umzutauschen, der Kreis schloss sich, wenn ich die ägyptischen Pfund ausgegeben hatte. Der Wechselkurs des Euros machte mich zum Mitglied einer imaginären Gesellschaftsschicht, denn weder war ich - da ich hier nun ausnahmsweise über sehr viel Geld verfügte - wirklich Teil meiner Mittelklasse, die ich aus meinem Leben in Kairo kenne, noch gehörte ich in Berlin - wo das Geld herkommt - einer bestimmten Gesellschaftsschicht an. Ich lebte zwischen zwei Währungen.

Der Wechselkurs der ägyptischen Zentralbank war geringer als der auf dem Schwarzmarkt. Deswegen - wie absolut habsüchtig - zog ich es vor, bei Währungshändlern zu tauschen. Dieses Mal entschloss ich mich, zu meinem vorhin erwähnten Freund zu gehen, um einige Euro zu verkaufen. Eine Zeit lang war mein Freund von einem Job zum nächsten gewechselt, vom Lehrer zum Computertechniker zum Handelsvertreter. Bis er letztendlich an eine Stelle gelangte, wo er dank seines Studiums mittlerweile eine gar nicht üble Position innehat. Er ist Verantwortlicher für externe Kommunikation. Dank dieser Aufgabe ist er oft in Kontakt mit Währungshändlern, um Geld für und aus diversen Geschäften umzutauschen. Ich gab ihm zwei Hundert-Euro-Scheine, er gab sie weiter an einen seiner Assistenten, der sich entschuldigte, um "etwas zu erledigen". Während wir dasaßen und warteten, zwinkerte ich meinem Freund zu und sagte "Kein schlechter Job!". "Bitte bedien' dich", lächelte er und fuhr fort: "Ich meine es ernst. Ich werde Ende des Jahres kündigen. Ich werde ein zweites Mal Selbstmord begehen. Ich habe die Wohnung bekommen." Ich schüttelte den Kopf und sagte, während ich mit meinem Finger eine Abschürfung im glänzend schwarzen Holz seines Schreibtisches berührte, "Das glaube ich nicht".

"Natürlich glaubst du es nicht. Obwohl du dieses Land verlassen hast, ähnelst du einem Bauern, der sein Leben lang auf demselben Acker und neben demselben Fluss verbringt, und er wird ihnen auch niemals den Rücken kehren." Wir lachten über den Vergleich. Danach erzählte er, wie er einmal bei einem Währungshändler zu Hause war, um etwas Geld umzutauschen und dort einen komischen Mann traf. Der war in einen langen Mantel gekleidet und trug einen Sack mit sich, der aussah wie die der Bauern. Der Mann öffnete den Sack, entnahm einige Bündel Dollarnoten, Franken und Euro, entfernte das Gummiband und reichte sie dem Händler. Mein Freund erkannte den Mann, es war, welch seltsame Überraschung, ein alter Marxist, den er zu treffen pflegte, als er noch in Marxistischen Kreisen verkehrte. Mein Freund grüßte und fragte ihn: "Was machst du denn hier?", und der Mann antwortete, während er den Sack wieder schulterte, "Ich organisiere Kapitalbewegungen, wie du siehst, und du?" Und er lachte laut.
"Du träumst," sagte meine Mutter, als ich ihr erzählte, dass ich in Kairo Arbeit suchen wollte, "das Leben hier wird immer schwerer." Wir saßen zusammen und ich erzählte ihr ein bisschen vom Leben in Berlin, und als wir auf die Armut zu sprechen kamen, da wunderte sie sich, dass es auch in Berlin Armut gibt. "Die sind aber sicher nicht so arm wie die Menschen hier," wandte sie ein, "uns wird erzählt, dass selbst die Arbeitslosen dort Geld vom Staat bekommen, Arbeitslosenhilfe."

Mir wurde bewusst, wie groß der Riss ist, um den ich taumeln muss. Denn im Leben am Rande des Kapitalismus, wo eine halb-kapitalistische halb-chaotische Ordnung herrscht, dort wo fast alle außerhalb des Systems leben - was nicht bedeutet, dass sie nicht gerne Teil dieses Systems wären - dort scheint ein Ausstieg aus dem Kapitalismus eine Alternative zu sein, die nicht einmal ansatzweise diskutiert wird. Anders das Leben im Herzen des Kapitalismus, wo er einem bei jeder noch so kleinen Bewegung über den Weg läuft, spürbar auf Körper und Seele, die direkten wie die längerfristigen Auswirkungen deutlich erfassbar, in diesem Leben fällt es schwer, sich über den Kapitalismus keine ernsthaften Gedanken zu machen.

Was meint meine Mutter, wenn sie von Armut spricht? Eine erdrückende, erstickende kollektive Erfahrung. Wer ihr entkommt, wird von neuem geboren, wie jemand, der einer existenziellen Unterdrückung entflieht, ein unerfüllbarer Traum von Reichtum, der vom Himmel fällt, eine fortwährende Vertagung des Lebens. Und ich dachte über meine Freunde in Berlin nach, die von eben dieser Arbeitslosenhilfe leben - wenn sie sie denn bekommen - und wie sie einer nach dem anderen herbeigelockt werden dorthin, wo sie ihre individuellen Fähigkeiten "verbessern" und ehrenhafte produzierende Bürger werden können. Und wie sie neue Widerstandsmethoden entwickeln, die ihnen ein wenig Bewegung am Rande ermöglichen. Der Versuch, meiner Mutter die Regeln und das System der Verteilung der Arbeitslosenhilfe in einigen Sätzen zusammenzufassen, sowie die für den Arbeitsmarkt bestimmenden Zusammenhänge von Renten- und Versicherungssystemen zu erläutern schlug fehl, meine Mutter zeigte sich nicht sehr überzeugt.

Inzwischen kam meine Schwester mit ihrem Mann aus Abu Dhabi zurück, nach einer erfolglosen Reise auf der Suche nach Arbeit. Von ihr erfuhr ich die neuen Reisebestimmungen. Früher musste man sich als Besitzer eines Bankkontos ausweisen, das war neben anderen eine zentrale Bedingung der europäischen Botschaften, damit ein Visumantrag überhaupt bearbeitet wurde. Was das Bankkonto anging, konnte man die Vorschrift leicht erfüllen, indem man z.B. ein Konto speziell zu diesem Zweck eröffnete, oder gar Papiere vorlegte, die einen Verwandten des Antragstellers als Kontoinhaber bestätigten. Mittlerweile ist alles anders: Wer reisen will - sei es nach Europa oder in ein arabisches Land - der muss alle seine finanziellen Angelegenheiten einer Bank überlassen, denn nun verlangen die Botschaften eine detaillierte Ausführung aller Ausgaben und Einnahmen bei besagter Bank über einen Zeitraum von sechs Monaten bis zum Tag der Antragstellung, damit eine eindeutige Feststellung der finanziellen Lage des Antragstellers möglich wird. Für Mittellose bleibt kein Platz!

Mein Schwager erzählte mir - inzwischen war mir klar geworden, dass in ihm einen Experten in Sachen Banken vor mir hatte - von einem genialen Trick, den er entdeckt hatte. Was konnte das für ein Trick sein, den ich für mich behalten sollte, damit niemand sonst etwas davon erführe? Mein Schwager hatte von einer neuen Bank erfahren, die SBCH heißt, eine Bank mit Filialen überall in der Welt. "Wenn man nun bei dieser Bank ein Konto in ägyptischen Pfunden eröffnet", erläuterte er mir, "und dann dieses Geld in Abu Dhabi wieder abhebt und in Dollar umtauscht, umgeht man den extrem hohen Wechselkurs hierzulande." Die eingekauften Dollars werden dann wieder in ägyptische Pfunde zurückgetauscht, abermals in einem anderen Land mit einem besseren Wechselkurs abgehoben, umgetauscht, usw.
"Um Zinsabzügen vorzubeugen verteilt man sein Geld am besten auf mehrere kleine Konten", wusste er noch zu berichten. Und so erfuhr ich, dass nicht nur meine Schwester neuerdings ein Bankkonto eröffnet hatte, sondern auch mein jüngerer Bruder und meine jüngste Schwester - alle führen ein Konto bei der SBCH, zugunsten meines Schwagers.